Eine Patientin einigt sich mit ihrer Ärztin auf eine Koloskopie, eine Darmspiegelung. Sie erhält dafür ein Informationsblatt, das einen Fragekatalog sowie eine vorgedruckte Einwilligungserklärung enthält. Sie füllt alles aus und unterschreibt. Eine weitere mündliche Aufklärung gibt es nicht. Bei der Darmspiegelung wird ein Polyp entdeckt und entfernt. Darauf treten erhebliche Komplikationen auf. Die Patientin klagt auf Schadenersatz in der Höhe von mehr als einer Million Franken. Sie macht vor Gericht namentlich geltend, nicht in die Polypenentfernung eingewilligt zu haben. Das Bundesgericht stellt klar: Die Ärztin kann sich auf die «hypothetischen Einwilligung» der Patientin berufen. Somit wird kein Schadenersatz fällig.
Das ist die Story
Am 6. Juli 2010 begibt sich die Patientin wegen eines Hämorrhoidalleidens in die Praxis ihrer Ärztin. Es wird abgemacht, am nächsten Tag eine Koloskopie durchzuführen. Die Patientin erhält ein Informationsblatt, das einen Fragekatalog sowie eine vorgedruckte Einwilligungserklärung enthält. Am Tag darauf bringt die Patientin das Informationsblatt ausgefüllt und unterzeichnet in die Praxis mit. Ohne weitere mündliche Aufklärung führt die Ärztin daraufhin die Koloskopie durch. Dabei entfernt sie einen zufällig im Darmsigma vorgefundenen Polypen und behandelt abschliessend die Hämorrhoiden mit fünf Gummibandligaturen.
In der Folge persistieren bei der Klägerin Schmerzen, zunächst im Unterbauch und nach dem 8. Juli 2010 im Oberbauch. Am Morgen des 8. Juli 2010 und dann wieder am 12. Juli 2010 ruft der damalige Lebenspartner der Klägerin in der Praxis der Ärztin an, wobei er ihren schlechten Zustand genau schildert. Die Ärztin veranlasst keine weiteren Abklärungen.
Am 13. Juli 2010 wird die Patientin in das Spital gebracht, wo gleichentags wegen einer gedeckten Kolonperforation der linken Flexur mit ausgedehntem subsplenischem/retrokolischem Abszess notfallmässig eine Laparotomie mit Hemikolektomie links mit Transverso-Sigmoidostomie erfolgt. Am 31. Juli 2010 treten Abdominalschmerzen auf. Aus diesem Grund wird am 2. August 2010 eine CT-gesteuerte Abszessdrainage durchgeführt. Am 11. August 2010 wird die Patientin aus dem Spital entlassen. Aufgrund eines Abszessrezidivs erfolgt dann eine weitere Hospitalisation vom 18. bis am 24. August 2010 mit CT-gesteuerter Abszessdrainage am 19. August 2010.
Hohe Schadenersatzklage
Sieben Jahre später klagt die Patientin auf Schadenersatz, unter anderem wegen Verletzung der Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht. Die Patientin verlangt die Verurteilung der Ärztin zur Zahlung von über 1,1 Millionen Franken für Erwerbs-, Haushalt-, Renten-, Betreuungs- und Pflegeschaden, Ersatz der Heilungskosten und der Anwaltskosten sowie für eine Genugtuung. Das Bezirksgericht Aarau weist die Klage ab und das Aargauer Obergericht bestätigt den Entscheid im Sommer 2023. Der Fall gelangt ans Bundesgericht.
Bundesgericht bejaht «hypothetische Einwilligung»
Das Bundesgericht erwägt im Entscheid 4A_415/2023 vom 11. Oktober 2023 sinngemäss: Die Patientin bringt namentlich vor, sie habe nicht wirksam in die Polypektomie, die Entfernung des Polypen, eingewilligt. Der medizinische Eingriff sei demzufolge insoweit widerrechtlich und die Beschwerdegegnerin bereits aus diesem Grund schadenersatzpflichtig. Für den Fall, dass die Haftpflicht nicht bereits mangels Einwilligung bejaht werde, beruft sie sich auf Verletzungen der ärztlichen Sorgfaltspflicht.
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung gesteht dem Arzt bei einem gescheitertem Nachweis der ausreichenden Aufklärung den Einwand der «hypothetischen Einwilligung» des Patienten zu. Das heisst: Es wird angenommen, der Patient hätte sich nach Lage der Dinge auch bei gehöriger Aufklärung zur Operation entschlossen. Die Beweislast für eine solche Behauptung trägt der Arzt. Vom Patienten kann allerdings verlangt werden, dass er glaubhaft macht oder wenigstens behauptet, warum er bei gehöriger Aufklärung die Einwilligung zur Vornahme des Eingriffs insbesondere aus persönlichen Gründen verweigert hätte.
Unter Abwägung aller Tatsachen in diesem Fall weist das Bundesgericht die Klage der Patientin unter Auferlegung der Gerichtskosten von 7'000 Franken ab. Das Gericht kommt zwar ebenfalls zum Schluss, dass die Patientin nicht ausreichend über die Behandlung und deren Risiken aufgeklärt worden war. Doch es stützt das Argument der «hypothetischen Einwilligung», wonach die Patientin sich auch bei einer umfassenden Aufklärung zur Entfernung des Polypen entschieden hätte.
Das ist die «hypothetische Einwilligung»
Die FMCH, der Dachverband von 16 chirurgisch und invasiv tätigen Fachgesellschaften und drei Berufsverbänden, definiert die «hypothetische Einwilligung» in den «Richtlinien der FMCH für die Patienten-Aufklärung» wie folgt: «Dem Arzt steht der Einwand der ‘hypothetischen Einwilligung’ zu. Er kann geltend machen, der Patient hätte dem Eingriff auch bei genügender Aufklärung zugestimmt. Mit der Bejahung der ‘hypothetischen Einwilligung’ ist der Eingriff rechtmässig. Die Rechtsprechung stellt auf die persönliche und konkrete Situation des Patienten ab. Die Beweislast für die ‘hypothetische Einwilligung’ hat der Arzt zu tragen. Vom Patienten kann jedoch verlangt werden, dass er glaubhaft macht oder wenigstens behauptet, warum er auch bei gehöriger Aufklärung die Einwilligung zur Vornahme des Eingriffs insbesondere aus persönlichen Gründen verweigert hätte.»