Wenn eine Ehefrau in der Arztpraxis ihres Ehemanns arbeitet, besteht gegenüber der Arbeitslosenkasse ein Missbrauchsrisiko, wenn sie wegen der Trennung der Ehe arbeitslos wird. Das Missbrauchsrisiko bleibt bis zum Scheidungsurteil unverändert hoch, weil erst dann die endgültige Entflechtung der ehelichen Finanzen erfolgt. Vor dem Scheidungsurteil gibt es daher in jedem Fall keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Das hat das Bundesgericht in Abänderung der bisher geltenden Regelung entschieden.
Der Fall
Verena M. ist seit dem November 2008 von ihrem Mann getrennt. Dieser lebt mit einer neuen Partnerin zusammen und hat ein gemeinsames Kind mit ihr. Die Trennungsmodalitäten sind in einer aussergerichtlichen Vereinbarung vom 21. April 2009 festgelegt. Verena M. hat viele Jahre unentgeltlich in der Arztpraxis ihres Ehemanns mitgearbeitet. Wenige Tage vor der Einreichung der Scheidungsklage am 14. Juli 2011 unterzeichnet sie mit der Praxis einen Arbeitsvertrag, der einen Monatslohn von 4'500 Franken festhält. Sie verlangt am 5. Dezember 2013 vom Noch-Ehemann, für die zukünftigen Lohnzahlungen eine Sicherheit zu leisten. Dieser lehnt ab. Deshalb kündigt Verena M. das Arbeitsverhältnis am 9. Dezember 2013 fristlos. Gleichentags meldet sie sich beim Arbeitsamt zur Arbeitsvermittlung an und am 18. Dezember zum Bezug der Arbeitslosenentschädigung. Zwei Monate später, am 17. Februar 2014, tritt sie anderswo eine neue Stelle an. Am 21. Februar 2014 wird die Ehe vom Richter geschieden.
Arbeitslosenkasse zahlt nicht
Am 8. April 2014 lehnt die zuständige Arbeitslosenkasse die vom 9. Dezember 2013 bis zum 16. Februar 2014 verlangten Taggelder ab. Begründung: Gemäss der vom Staatssekretariat für Wirtschaft SECO herausgegebenen 325-seitigen «AVIG-Praxis» (Richtlinien zur Ausführung des Bundesgesetzes über die Obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung) hat eine Ehefrau, die im Unternehmen ihres Ehemanns arbeitet, eine arbeitgeberähnliche Stellung. Sie ist deshalb von der Arbeitslosenentschädigung ausgeschlossen. Der Anspruch auf Taggelder könne erst «ab dem Datum einer Scheidung, einer richterlichen Trennung oder einer vom Richter verfügten Eheschutzmassnahme» geltend gemacht werden. All das treffe in diesem Fall nicht zu.
Verena M. erhebt Einsprache gegen die Verfügung. Sie bringt vor, sie sei seit Langem mit klaren Abmachungen von ihrem Ehemann getrennt. Dieser sei in einer neuen Beziehung mit einem gemeinsamen Kind. Ihre Ehe sei daher unwiderruflich zerbrochen. Der Fall gelangt bis vors Bundesgericht.
Richtlinie muss abgeändert werden
Das Bundesgericht verneint wie die Arbeitslosenkasse das Recht von Verena M. auf Taggelder (BGE 8C_639/2015 vom 6. April 2016). Die Begründung: Unabhängig vom Zerrüttungsgrad einer Ehe bestehe gegenüber der Arbeitslosenkasse ein Missbrauchsrisiko, wenn ein Ehepartner in dem vom andern Ehepartner beherrschten Betrieb arbeite und dann arbeitslos werde. Das Missbrauchsrisiko bleibe bis zum Scheidungsurteil unverändert hoch, weil erst dann die endgültige Entflechtung der ehelichen Finanzen erfolge. «Vor dem Scheidungsurteil sind somit keine Leistungen der Arbeitslosenversicherung geschuldet, unabhängig davon, ob und wie lange die Ehepartner faktisch oder gerichtlich getrennt leben oder ob gerichtliche Eheschutzmassnahmen angeordnet wurden.»
Ergo: Zur Vorbeugung des Missbrauchs von Arbeitslosengeldern muss die SECO-Richtlinie über die mitarbeitenden Ehegatten im Sinne des neuen wegweisenden Bundesgerichtsurteils abgeändert werden. Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besteht erst nach der Scheidung und nicht schon nach der richterlichen Trennung oder angeordneten Eheschutzmassnahmen.
Auch Selbständige mit einer Aktiengesellschaft zahlen Beiträge und erhalten trotzdem kein Arbeitslosendgeld
Missbrauchsgefahr besteht auch, wenn ein Selbständiger seinen Betrieb als Aktiengesellschaft (AG) oder als Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) errichtet und darin arbeitet. Solange der Betrieb nicht liquidiert ist und die versicherte Person weiterhin oberstes Organ ist, besteht deshalb kein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung und kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung – obwohl die Beiträge an die Arbeitslosenversicherung stets eingefordert werden und pünktlich zu bezahlen sind.