Bundesgerichtsentscheid 9C_166/2022 vom 9. Dezember 2024: Die Prüfung von Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW) von ärztlichen Leistungen durch die Krankenkassen muss das tarifpartnerschaftlich vereinbarte Screening und bei einem auffälligen Ergebnis des Screenings die Einzelfallprüfung der betroffenen Arztpraxis umfassen. Fehlt die Einzelfallprüfung, ist der Beweis einer rückzahlungspflichtigen «Überarztung» nicht möglich. Diese bundesgerichtliche Rechtsprechung hat das Bundesgericht im neuen Entscheid klar bestätigt.
Hat eine Berner Gruppenpraxis unwirtschaftlich behandelt?
Medinside, das Portal für die Gesundheitsbranche, fasst die Sachlage wie folgt zusammen: «Eine Berner Gruppenpraxis mit vier Ärzten und Ärztinnen sowie vier Psychotherapeuten erhielt 2019 eine dicke Rechnung von den Krankenkassen: Bis zu 950'000 Franken sollte sie zurückzahlen.
Die 27 damaligen Santésuisse-Mitgliedskassen machten geltend, dass die Gruppenpraxis im Jahr 2017 unwirtschaftlich behandelt und deshalb zu hohe Kosten pro Patienten verrechnet habe.
Das Schiedsgericht in Sozialversicherungsstreitigkeiten des Kantons Bern gab den Kassen recht: Die Praxis müsse 720'000 Franken zurückerstatten. Doch die Ärzte und Ärztinnen wehrten sich – und bekamen nun vom Bundesgericht zumindest teilweise Unterstützung. Die Wirtschaftlichkeitsprüfung, also die Berechnung, wie hoch die Kosten pro Patienten sind, sei unvollständig gewesen. Deshalb muss das Schiedsgericht nochmals über die Bücher und dann neu entscheiden, ob die Praxis tatsächlich so viel an die Kassen zurückzahlen muss.»
Bundesgericht wiederholt Wichtigkeit der Einzelfallprüfung.
Entsprechend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verweist das Bundesgericht in den Erwägungen des neuen Urteils erneut darauf, dass die Einzelfallprüfung zur Beurteilung einer rückzahlungspflichtigen Überarztung ausschlaggebend ist: Nach einem auffälligen Screening erfolgt «als ‘zweiter’ Schritt der Wirtschaftlichkeitskontrolle die Einzelfallprüfung. (…) Überdurchschnittliche Kosten können gegebenenfalls durch praxisspezifische Effekte erklärt und der aufgrund eines auffälligen Regressionsindexes entstandene Verdacht unwirtschaftlicher Behandlungsweise in diesem Umfang ausgeräumt werden.»
Einzelfallprüfung bringt zwei Besonderheiten der Gruppenpraxis ans Tageslicht.
Im konkreten Fall sind bei näherem Hinschauen zwei Besonderheiten der Berner Gruppenpraxis zu erkennen:
- Psychotherapie-Angebot: Dass die Gruppenpraxis auch Psychotherapie anbietet, ist laut dem Bundesgericht zwar kein typischer Bestandteil der ärztlichen Grundversorgung. Dieser Umstand könne aber trotzdem zu einem vergleichsweise grösseren Anteil teurer Patienten führen, was das Berner Schiedsgericht hätte berücksichtigen sollen.
- Erweiterte Praxisöffnungszeiten: Die erweiterten Öffnungszeiten könnten zu Mehrkosten führen, wenn die höhere zeitliche Verfügbarkeit eine Ausweitung der medizinischen Versorgung bewirke, zum Beispiel bei Notfällen. Die grössere zeitliche Verfügbarkeit kann auch dazu führen, dass bestehende Patientinnen und Patienten Leistungen beanspruchen, die sie sonst anderswo bezogen hätten. Das alles muss das Schiedsgericht für den konkreten Fall genau unter die Lupe nehmen.
Bundesgericht: Sorgfältige Einzelfallprüfung notwendig.
Das Bundesgericht entscheidet: Das Urteil des Schiedsgerichts in Sozialversicherungsstreitigkeiten des Kantons Bern vom 17. Februar 2022 wird aufgehoben. Das Schiedsgericht muss aufgrund einer erweiterten sorgfältigen Einzelfallprüfung prüfen, ob der von den Krankenkassen zurückgeforderte Betrag von bis zu 950'000 Franken tatsächlich gerechtfertigt ist. Dazu muss das Schiedsgericht im Rahmen der Einzelfallprüfung den Parteien Gelegenheit zur Vervollständigung der Wirtschaftlichkeitsprüfung geben und anschliessend über die wirklich gerechtfertigte Rückforderung der Krankenkassen an die Gruppenpraxis entscheiden. Entsprechend müssen die Krankenkassen allenfalls ihre Forderungen vermindern.